Verena ist 21 Jahre alt und kommt aus dem südlichen Nordrhein-Westfalen. Sie hat sich netterweise dazu bereit erklärt, über Ihre Vergangenheit zu sprechen, als Sie sich vor gut 3 Jahren mit 45kg auf 1,75m in eine Klink eingewiesen hat. Heute spricht Sie offen über Ihre vergangene Krankheit und wie sich diese auf ihr heutiges Leben auswirkt.
Wie ist es dazu gekommen?
„Es war ein mehr oder weniger schleichender Prozess. Ich wollte schon immer abnehmen, da ich mich damals einfach für mich selbst geschämt habe, auch gemobbt wurde und unbedingt einen Freund wollte. Wahrscheinlich hatte ich mir das nur eingebildet. Jedenfalls begann ich auf alles zu verzichten und mir nur kleine Portionen zu gönnen. Meine Mutter hat das natürlich bemerkt, da ich aber zu der Zeit umgezogen bin, wies sie mich auch nicht mehr darauf hin. Mit Sprüchen wie „Ich habe heute schon bei meiner Freundin gegessen.“ hatte man auch keine Probleme. Danach begann die Zeit, wo ich mich etwa alle 2 Stunden auf die Waage gestellt habe, damit ich ja nicht irgendwie über 50kg komme. Ich habe die Waage sogar mit zur Schule genommen.“
Warum fiel dir das damals so leicht?
„Alles drehte sich nur ums Essen. Meine Angst zuzunehmen und dem Hungergefühl nicht widerstehen zu können, war genug Motivation in meiner Welt zu leben. Jeden Tag ging ich paar Mal auf die Waage und hab mir mein Spiegelbild angesehen. Jede Zahl weniger auf der Waage war wie ein Riesenerfolg für mich. Es war ein Teufelskreis, schön aber gleichzeitig auch schrecklich. Es fiel mir also so gesehen gar nicht so leicht, dennoch war es einfacher, als sich den täglichen Kommentaren der Mitmenschen hinzugeben. Es braucht viel Kraft, die man auch nicht immer hatte. Ich konnte manchmal tagelang nicht schlafen, manchmal waren 16 Stunden Schlaf am Stück auch kein Problem.“
Ein Jahr lang befand sich Verena in Behandlung, davon 2,5 Monate stationär und den Rest musste sie regelmäßig zu Kontrollen dort sein. In dieser Zeit hat sie insgesamt 5 kg zugenommen. Der Alltag war streng geregelt und genau zeitlich getaktet. Es gab 5 Mahlzeiten am Tag die genau dokumentiert werden mussten. Zwischendurch hatte sie einige Termine in der Klinik, aber auch bei Ärzten und Psychologen. In der Freizeit war es natürlich nicht so einfach über alles zu reden, sich mal was zu gönnen und am Ball zu bleiben, dennoch blieb Verena nicht viel übrig. Es war wohl die bis jetzt wichtigste Entscheidung in ihrem Leben.
Wann ist dir selbst bewusst geworden, dass du magersüchtig bist?
„Mir ist das eigentlich die ganze Zeit bewusst gewesen. Wenn es mir schlecht ging, hat die Krankheit (ja ich sag bewusst Krankheit) mir geholfen, dass es mir wieder besser ging. Weil man sich denkt: „Hey, immerhin bist du dünner als die anderen und kannst dich kontrollieren.“ Auch wenn die Leute einen beleidigen oder angesprochen haben, man weiß was man da hat, aber trotzdem lebt man in seiner eigenen Welt. Es ist einfach schwierig zu beschreiben.“
Was war das Schlimmste und Schönste in dieser Zeit?
„Es gibt eigentlich 3 Dinge die im nachhinein wirklich richtig schlimm waren. Zum einen wie die Familie und die restlichen Freunde eigentlich mitleiden. Das bekommt man nur so am Rande mit, weil man eigentlich die ganze Zeit nur auf sich achtet. Das hat mich in der Zeit in der Klinik sehr viel beschäftigt. Dann, was die Leute in der Klinik einem so erzählen ist wirklich traurig. In der ersten Gruppentherapie saß ein Mädchen mit Mütze, Handschuhen und einem dicken Pullover da, trotz es draußen über 30 Grad waren. Sie schämt sich zu zeigen, weil sie glaubte sie sei die Dickste in der Gruppe. Oder ein anderes Mädchen erzählte uns, was sie alles schon erlebt hat mit ihren Eltern, Familie usw. und sie war erst 12. Das waren so Momente wo man realisiert, wie gut wir es eigentlich haben…“
Wie gehst du heute damit um?
„Ich versuche in einer Facebookgruppe ein paar Mädchen über meine Erfahrungen zu berichten und Ihnen Mut auszusprechen, dies ist allerdings manchmal gar nicht so einfach, weil ich eigentlich kein gutes Vorbild bin. Ich zähle meine Kalorien immer noch, weil ich regelmäßig Sport mache und versuche, meine Kalorien einzuhalten. Dies ist eine andere Art von Druck, trotzdem ist es nicht richtig. Es ist nicht schlimm darauf zu achten wie viel und was man isst, dennoch ist es nicht vorteilhaft, weil die Gefahr besteht in eine alte Gewohnheit zu verfallen.“
Was möchtest du den Leuten für die Zukunft mitgeben?
„Passt euch nicht an. Egal was andere zu euch sagen, ihr dürft euch nicht verändern, weil andere sagen, dass es so besser ist, oder ihr denen gefallt. Sowas ist einfach Schwachsinn. Damals redeten viele Mädchen über „Germanys next Topmodel“ oder Sophia Thiel bei Youtube. Heute wird das Dünnsein oder der Fitnesstrend auf Youtube und Instagram noch viel weiter verherrlicht. Wie der Mode- oder Vegantrend. Ich habe nichts dagegen wie sich jemand ernährt. Aber früher verabscheuten alle Analogkäse oder gefaktes Essen, ziehen sich aber heute veganen Käse aus dem künstlichen Zeug rein. Aber die Menschen sind ein Widerspruch in sich. Das kennen wir ja. Seit einfach ihr selbst. Bekennt euch selbst. Ihr seid das was ihr seid und das ist gut so. Wie doof wäre das denn, wenn alle gleich sind? Die Menschen werden euch auch so mögen, wenn ihr dazu steht und das nach außen ausstrahlt. Akzeptanz ist doch was ganz einfaches :)“
Bei der heutigen aufstrebenden Körperkultur nach Perfektion und Aufmerksamkeit in der Gesellschaft, steigt die Anzahl der stationär behandelten jungen Frauen und Männer von Jahr zu Jahr. Die Vorsorgeuntersuchung für Jugendliche (J-Untersuchung) soll über gesundheitliche Aspekte sowie Verhaltensstörungen, Sozialisationsstörungen und andere Dinge aufklären. Leider ist es sehr schwierig sowas anhand von einer Untersuchung klar dazustellen, da sich die Welt schneller verändert als einem lieb ist. Dies ist nämlich die Geschichte einer Gesellschaft, die diesen Lifestyle huldigt und die Schlankheit vergöttert. Voller Stolz feiern sie sich im Internet und erhalten dafür von allen Seite bewundernde Anerkennungen durch ein Like. Das ist es doch wert. Magersucht ist die gefährlichste psychosomatische Erkrankung bei jungen Menschen, die schweren Langzeitschäden vorbringen kann. Zwar kann die Krankheit zum größten Teil geheilt, allerdings dauert dies meist viele Jahre. Daher darf diese Krankheit nicht von der Gesellschaft verdrängt werden.
Wie bei Verena können Diäten die weit-verbreitend das Schlankheitsideal vorleben einfach nicht mehr enden, obwohl das Wunschgewicht erreicht wurde. Es nimmt somit krankhafte Züge an, sodass manche Menschen einfach weiterhungern oder es noch mehr radikalisieren. Magen-Darm-Beschwerden, Herz-Kreislauf-Störungen und auch Schlafstörungen, Panikattacken oder Depressionen werden dafür in Kauf genommen. Doch es kann noch schlimmer ausgehen. Die Haare fallen aus, die Haut wird rissig und schuppt, das Gehirn kann Schäden nehmen, die Periode bleibt aus, und die Narben an Körper und Seele bleiben oft ein Leben lang.
Wie lebst du heute?
„Ich arbeite ganz normal in einer Firma. Wohne in einer kleinen Wohnung und gehe mit meinen Freunden am Wochenende öfter weg, vor allem zum Essen. Ich mag es Filme zu schauen und zu lesen. Verbringe zu Hause meine Zeit mit viel baden, kochen und nachdenken. Typischerweise mag ich es auch zu shoppen, aber kaufe nur das was mir gefällt, nicht nach Marken oder sowas. Das können andere gerne machen. Ich reise gerne, oft alleine und mag es Zeit alleine zu verbringen. Ich mag jetzt mein Abi nachholen über eine Abendschule und hoffe danach einen anderen Job zu bekommen. Mal sehen was die Zukunft bringt.“
Wir wünschen Verena alles Gute für ihren zukünftigen Weg und bedanken uns für den netten Abend, in der sich Verena die Zeit genommen hat!
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